Kreiszeitung 17.07.2023
Mit 120 Sachen über die Wiese

Mit 120 Sachen über die Wiese
Segelflieger: Verein für Luftsport Rotenburg richtet Qualifikation aus

VON ANDREAS SCHULZ

Rotenburg
– „Charlie 6“, rauscht es aus dem Funkgerät. „Charlie 6“, bestätigt Lothar Hirchert. Der Fahrer der Winde soll gleich das mit „C6“ bezeichnete Seil einziehen und damit das nächste Segelflugzeug vom Rotenburger Flugplatz in die Höhe katapultieren. „Seil straff“, rauscht das nächste Kommando durch die Kabine. Der laufende Motor des 350-PS-Fahrzeugs heult auf und in rund 1 000 Metern Entfernung ist Sekunden später zu sehen, wie ein Segelflugzeug sich in die Lüfte erhebt. Das Kunststoffseil klinkt sich aus, Hirchert zieht es mit der Winde ein.

FOTOS: SCHULTZ

 

Der Verein für Luftsport (VfL) Rotenburg richtet zum zehnten Mal den Qualifikationswettbewerb zu den deutschen Segelflugmeisterschaften aus. Samstag war der letzte Tag der rund einwöchigen Veranstaltung. 66 Flieger ziehen die Mitglieder in dieser Zeit unzählige Male in die Höhe. Am Freitag ist die Aufgabe für die erste der drei antretenden Klassen klar gesetzt: Vom Flugplatz in Rotenburg nach Bad Bevensen fliegen, von dort Richtung Schiffshebewerk Scharnebeck und dann zurück zum Flugplatz.

Gerade noch steht das Flugzeug im Rasen an der Startlinie, wo drei Männer es gemeinschaftlich hingewuchtet haben, schon bewegt sich das Fortbewegungsmittel mit etwa 120 Stundenkilometern auf Hirchert und die Kollegen an den zwei geliehenen Winden zu. Nahezu geräuschlos bewegt sich der weiße Flieger, nachdem er die Bodenhaftung verloren hat. Das Publikum, bestehend aus anderen Wettbewerbsteilnehmern, die auf ihre Startfreigabe warten, beobachtet das eher gleichmütig. Das Schauspiel eines gelungenen Starts – sie haben es schon oft gesehen, sie sind es gewohnt.

„Schaffbar“, sagt Alexander Adamczyk zur Aufgabenstellung. Er ist für den Wettbewerb aus Berlin angereist, mischt mit seiner Discus 2b in der Standardklasse mit: maximale Spannweite von 15 Metern, 480 Kilo Gewicht. „Das Wetter ist die Herausforderung“, sagt der Bauingenieur, der sonst seinen Heimatflugplatz in Neuruppin hat. Die geplanten 150 Kilometer Flugstrecke seien überschaubar. Bei einer eher simplen Aufgabe wie dieser führe letztlich die höchste Durchschnittsgeschwindigkeit zum Sieg, sagt Adamczyk.

„Das muss schnell gehen“, sagt auch Hans-Joachim Neupert. Allerdings sitzt er am Steuer eines 30 Jahre alten, roten Golfs. Auf dem Dach haben zwei seiner Rotenburger Vereinskollegen gerade noch zwei Seile in eine Haltevorrichtung gespannt, schon rauscht Neupert mit dem Oldtimer über das gemähte Grün. „Lepo“ heißen die Rückholfahrzeuge für die eingezogenen Kunststoffseile – angelehnt an die Opel-Modelle, die früher noch schwere Stahlseile von der Winde zurück zur Startlinie mit den Flugzeugen gefahren haben. Neupert bremst auf der anderen Seite des Feldes, Vereinskollegen nehmen die Seile ab – kurz darauf geht es für Neupert zurück zur Winde, denn bis die Seile wieder eingezogen sind, dauert es nur wenige Minuten.

Dass die Aufgabe eher einfach ausfällt, dafür hat Timo Stöven gesorgt. Er trägt als Sportleiter die Verantwortung für die regelkonforme Umsetzung des Wettbewerbs und die Aufgabenstellung. Die simpel gestaltete Mission sei den Wetterbedingungen geschuldet. Die sind Freitag nämlich „ganz verrückt“, sagt Christian Rinn, Geschäftsführer des Vereins für Luftsport Rotenburg und Wettbewerbsleiter. „Da ist alles drin: gute Aufwinde mit drei Metern pro Sekunde, aber auch welche mit nur 0,4. Das ist schwer vorhersehbar und lokal unterschiedlich“, verdeutlicht er.

Wettbewerbs- und Schlepppause: Es fehlt an Thermiken, an Aufwind, immer wieder landen darum Teilnehmer kurze Zeit nach dem Start wieder auf dem Rotenburger Flugplatz. Normalerweise könnte der Verein die fast 70 Flugzeuge locker innerhalb von zwei Stunden in die Lüfte bekommen. Doch aus der angepeilten Zeit wird nichts. „Heute ist es sehr durchwachsen“, bilanziert Rinn. Die gut geölte Maschine der Organisation, die sein Vereinskollege Albert Beneke gerade noch skizziert hat, die gleichzeitige Arbeit an drei Winden und sechs Seilen, muss zum Erliegen kommen. Zeit für Gespräche unter Piloten.

Das bleibt auch so für den Rest des Tages – eine Wertung gibt es daher zumindest für diesen Wettbewerbstag nicht. Gewerkelt haben die rund 20 Rotenburger Mitglieder aus der Orga-Gruppe für die Qualifikation aber auch an vorangegangenen Tagen, sodass es für eine Qualifikation reicht. So hat auch die erste Auflage des Events nach der Corona-Pause wieder ein Ergebnis – sie war nicht umsonst, die Arbeit an der „Mammutaufgabe für den Verein“, wie Hirchert sagt.

Rotenburger Kreiszeitung